Die deutsche Regierung erleichtert den Zugang zur Staatsangehörigkeit - kommt nun die Partei für Muslime?

Max Sprick

20.01.2024, 05.30 Uhr 7 min

Immer mehr Personen islamischen Glaubens leben in Deutschland. Ihr Anteil wird weiter steigen, die Ampelkoalition vereinfacht die Einbürgerung. Die Opposition warnt vor weitreichenden Folgen.

Die Teilnehmerin eines Friedensmarschs von Muslimen in Berlin im Sommer 2017.
Stefan Boness/ Ipon / imago

Der berühmte französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat aus seiner Zukunftsangst einen Bestseller gemacht: "Unterwerfung". Houellebecq behandelt darin die Furcht vor einer Islamisierung Europas. Er liess seinen Protagonisten, den Kandidaten einer muslimischen Partei, zum Präsidenten Frankreichs werden. Und nun, nachdem die Ampelkoalition in Deutschland am Freitag ihr neues Einwanderungsgesetz beschlossen hat, stellt sich für manche die Frage, ob Houellebecqs Utopie irgendwann zur deutschen Realität werden könnte.

Die Abgeordneten des Bundestages haben den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert. Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der oppositionellen Unionsfraktion, nannte es "das Gesetz mit den weitreichendsten negativen Folgen für unsere Gesellschaft". Frankreich sei den umgekehrten Weg gegangen und verschärfe seine Einbürgerungsregeln - "nach durchaus leidvoller Erfahrung", wie Throm sagte.

Ableger von Erdogans AKP im Deutschen Bundestag?

Schon Anfang Dezember, als die Weihnachtszeit begann und die deutschen Christen sich auf Heiligabend einstimmten, hatte er mit der "Bild"-Zeitung Alarm geschlagen. "Islamisten gründen eigene Partei", titelte das Boulevardmedium und zitierte Throm: "Das wird nicht nur unsere Demografie, sondern auch die Wählerstruktur massiv verändern." Mit "das" nahm er Bezug auf ebenjene Staatsangehörigkeitsreform der Ampelregierung. Zuwanderer sollen nun bereits nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland Staatsbürger werden können, wenn sie ihren Lebensunterhalt ohne staatliche Hilfe bestreiten können. Bis anhin müssen sie mindestens acht Jahre im Land gelebt haben. Unter bestimmten Voraussetzungen soll die Einbürgerung sogar nach drei Jahren möglich werden. Wer den deutschen Pass beantragt, soll seinen bisherigen nicht mehr abgeben müssen. Das gilt bereits für EU-Bürger, aber beispielsweise nicht für Personen aus der Türkei.

Alexander Throm im Deutschen Bundestag.
Imago / Frederic Kern

Throm hatte damals auf Zahlen aus dem Gesetzesentwurf verwiesen und tat dies auch am Freitag wieder. Nach der Reform könnten "2 533 803 Personen" eingebürgert werden. Der Christlichdemokrat warnte vor der Reform: "Wenn die Ampel auf neue Wähler hofft, wird sie sich noch wundern: Wir müssen uns eher darauf einstellen, dass bald ein deutscher Ableger von Erdogans AKP im Deutschen Bundestag sitzt."

Die Aussagen sorgten für Aufregung, mehrere Medien griffen sie auf, in den sozialen Netzwerken wurden sie lang und breit diskutiert. So neu ist die Überlegung einer muslimischen Parteigründung aber nicht. Es gibt sie spätestens seit dem sogenannten Flüchtlingssommer 2015, als besonders viele Migranten islamischen Glaubens nach Deutschland kamen.

Realistisches Szenario oder Unsinn?

Doch ist die Aufregung berechtigt? Könnten Muslime eine eigene Partei in Deutschland gründen?

Es gibt Experten, die das bejahen. Der türkische Präsident Recep Erdogan müsse es bloss wollen, sagen sie. Es müssten nur Gelder aus der Türkei und den Golfstaaten fliessen, und schon wäre eine islamische Partei in Deutschland möglich - mit noch mehr Einflussmöglichkeiten auf die deutsche Politik für Erdogan. Es gibt aber auch Experten, die dieses Szenario für Unsinn halten. Wie sieht da die Realität aus?

Riem Spielhaus, Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Göttingen, sagt zum Beispiel: "Aus meiner Sicht sind solche Warnungen reine Panikmache." Häufig gebe es die Annahme, muslimisch zu sein bedeute automatisch, Migrant zu sein. Aus wissenschaftlicher Sicht sei das nicht nachzuvollziehen. "Weil Muslim zu sein mit Religion zu tun hat - nicht unbedingt mit Politik oder Herkunft. Wenn man Islam mit Migration gleichsetzt, ist man relativ schnell in einem rassistischen Denken." Schliesslich gebe es auch viele Muslime, die in Deutschland geboren worden seien, oder Einheimische, die zum Islam konvertiert seien.

Die in Deutschland mit Abstand grösste muslimische Gruppe stellen laut Bundesinnenministerium Türkischstämmige mit 2,5 Millionen beziehungsweise 45 Prozent. Die zweitgrösste Gruppe hat arabische Wurzeln und stammt aus dem Nahen Osten oder Nordafrika, darauf folgen Muslime aus Südosteuropa und dem Mittleren Osten.

Die Grundannahme, dass Muslimsein mit bestimmten politischen Haltungen verbunden sei, stimmt für Spielhaus nicht. Es könne nicht "die" muslimische Partei geben. Im Artikel der "Bild" war das suggeriert worden. Die Zeitung zitierte Hermann Binkert, den Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa: "Es gibt demoskopisch ein Potenzial für eine muslimische Partei in Deutschland." Binkert rechnete vor: "Mit zweieinhalb Millionen Stimmen kann man bei einer Bundestagswahl die Fünfprozenthürde überspringen."

In Deutschland leben laut der Studie der Deutschen Islamkonferenz (DIK) zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Muslime, diese Zahl dürfte durch erleichterte Einbürgerungen schnell steigen. Die Ampelregierung geht im Entwurf ihrer Reform von "einem einmaligen, sprunghaften Anstieg der Einbürgerungsanträge" aus, der sich "im Laufe der Zeit jedoch abmildert".

Versuche, eine Partei in Deutschland zu etablieren, die muslimische Interessen vertritt, gab es schon mehrere. 2010 hatte sich im norddeutschen Osnabrück Deutschlands die erste Partei dieser Art gegründet: Die Muslimisch Demokratische Union (MDU) trat mit 14 Mitgliedern ein Jahr später bei den niedersächsischen Kommunalwahlen an. Sie zielte auf die rechtliche Gleichstellung des Islam mit den christlichen Kirchen ab und wollte Religionsunterricht für Muslime in deutschen Schulen festschreiben. 1401 Stimmen sammelte die MDU damals, was einem Anteil von 0,0 Prozent entsprach und die Partei nicht zu politischer Teilhabe qualifizierte.

Jüngst gründete sich Anfang 2023 in Berlin die Islam Partei Deutschland, die laut ihrer Homepage für "einen modernen Islam, insbesondere für Kinder- und Frauenrechte" steht und gegen "Asylmissbrauch durch Asylantragstellung in den deutschen Botschaften". Aktiver in Erscheinung getreten ist die Partei bisher aber nicht.

Die Osnabrücker MDU ging schliesslich im Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG) auf, das in Köln, ebenfalls 2010, gegründet worden war. Die Kleinpartei gilt seither als deutscher Ableger der rechtskonservativen türkischen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Die Unterwanderung deutscher Volksparteien

Susanne Schröter, die Leiterin des Forschungszentrums Globaler Islam an der Universität Frankfurt am Main, sagt: "Aber selbst die türkischstämmigen Muslime geben dieser Partei im Verhältnis zu ihrer Anzahl nicht so viele Stimmen." Nur dort, wo es starke und organisierte AKP-Bastionen gebe, habe das islamische Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit bisher punkten können. Bei der Europawahl 2019 etwa habe das BIG in Teilen Duisburgs Stimmen in zweistelliger Höhe erreicht. Der Duisburger Stadtteil Marxloh zum Beispiel gilt als Brennpunktquartier, wenn es um Parallelgesellschaften in Deutschland geht. Der Ausländeranteil liegt hier bei mehr als 60 Prozent. "Daran sieht man, dass es schon Potenzial geben kann für islamische Parteien", sagt Schröter.

Aber der politische Islam verfolgt seine Ziele auch auf anderen Wegen - in den deutschen Volksparteien.

Es gibt beispielsweise die Organisation Milli Görüs. Diese hat sich nach eigenen Angaben das Ziel gesetzt, "den politischen Islam überall zu implementieren". Milli Görüs habe schon vor Jahren dazu aufgerufen, dass Muslime in die deutschen Parteien eintreten, um islamistisches Gedankengut einzubringen, sagt die Professorin Susanne Schröter, die auch Mitglied des inzwischen aufgelösten "Expertenkreises politischer Islamismus" der Bundesregierung war. "Diesem Ruf sind auch viele gefolgt." So gebe es beispielsweise in der CDU viele "sehr, sehr fundamentalistische türkischstämmige Muslime". Auch bei den Grünen gebe es viele muslimische Mitglieder, die glaubten, dass die Partei am ehesten etwas dafür tue, dass Muslime in Deutschland mehr Rechte bekämen. In der SPD gibt es seit vielen Jahren sogar einen Arbeitskreis "Muslime in der SPD". Dennoch tut sich die Partei mit dem Phänomen Islamismus schwer. "Wir liberalen Muslime haben keinen Zugang mehr zur SPD", sagte der deutsche Islamismus-Experte Ahmad Mansour 2021.

"In all diesen Parteien haben wir Muslime, die versuchen, gezielt muslimische Anliegen einzubringen - und das als erfolgversprechender sehen, als eine eigene Partei zu gründen", sagt Schröter. Der Grund dafür seien die grossen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen von Muslimen in Deutschland, sowohl was deren Herkunft als auch deren gesellschaftliche Vorstellungen betreffe.

Muslime haben keine geeinte Stimme. Sunnitische Muslime bilden die grösste Gruppe der Muslime und sehen sich als Mitte, die nächste grosse Gruppe bilden schiitische Muslime - die beiden Konfessionen hatten sich im Streit über den legitimen Nachfolger des Propheten Mohammed getrennt. Es gibt türkische Muslime und arabische, Muslimbrüder - die Muslimbruderschaft gilt als erste revolutionäre islamische Bewegung - und die ultrakonservative Strömung der Salafisten. Und viele weitere Gruppen. Sollten diese sich entscheiden, in die Politik zu gehen, könnten etliche muslimische Parteien entstehen, die sich untereinander bekämpfen. Säkulare Muslime interessiere dieses Thema nicht, sagt Schröter. Diese würden nie eine muslimische Partei wählen. "Das ist nur ein Thema der Fundamentalisten."

Der Islam, der eine Trennung macht zwischen Staat und Religion, sei nicht politisch organisiert. Der traditionelle Islam hingegen schon. Dieser aber erkenne und dulde laut Schröter in seinen Reihen keine Andersdenkenden und gehe gegen eigene Minderheiten vor. Ein Aspekt, der ein weiteres Problem offenlegt: die Vereinbarkeit von Fundamentalismus mit dem deutschen Grundgesetz.

Wie verhält sich streng religiöser Islam mit dem Grundgesetz?

Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für öffentliches Recht an der Universität Würzburg und früher ebenfalls Mitglied des Expertenkreises politischer Islamismus, sagt: "Säkulare Muslime interessieren sich zwar für politische Teilhabe, haben aber eine grosse Distanz zu den Fundamentalisten, von denen sie sich zum Teil bedroht fühlen." Zwischen den beiden Strömungen tobe ein Kulturkampf.

"Die Fundamentalisten oder auch die streng Orthodoxen unter den Muslimen sind für die säkularen Muslime Rechtsradikale", sagt Schwarz. Bevor eine muslimische Partei gegründet würde, müsste also die Frage geklärt werden: Wie verhält sich streng religiöser Islam, egal welcher Ausprägung, zum Grundgesetz und dessen Vorgaben, etwa dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung?

Parteien können daher für verfassungswidrig erklärt werden. Die Sozialistische Reichspartei (SRP) etwa, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurden bislang als einzige Parteien in Deutschland verboten. "Die Möglichkeit, dass auch die Wertvorstellungen des fundamentalen Islams mit dem deutschen Grundgesetz nicht kompatibel sind, müsste man in Betracht ziehen", sagt Schwarz.

Riem Spielhaus, die Göttinger Professorin für Islamwissenschaft, betont ebenfalls die Unterschiede der verschiedenen islamischen Strömungen. "In der öffentlichen Wahrnehmung wird das häufig nicht registriert", sagt sie. Zu oft werde pauschal von "den Muslimen" geredet, zu selten zwischen arabischen, türkischen, afrikanischen, iranischen oder europäischen Muslimen differenziert. "Und dass sich aus all diesen Gruppen eine vereinte Stimme, eine vereinte Partei ergibt, ist derzeit nicht absehbar."

Ein Blick in Deutschlands Nachbarländer zeigt jedoch, dass auch das Gegenteil der Fall sein kann. Bei der Wahl in Schweden im Herbst 2022 erreichte in einigen Orten eine bis dahin kaum beachtete Partei ungeahnt Stimmanteile: Nyans ("Die Neuen"), eine auf islamische Wähler ausgerichtete Partei, holte die meisten Stimmen aller Parteien, die nicht ins Parlament einzogen. In Frankreich wollte die Union der demokratischen Muslime Frankreichs (UDMF) bei den Departementswahlen antreten, zog sich dann aber nach grossem, meist negativem, medialen Echo zurück. In der Realität erreichte die muslimische Partei einen deutlich geringeren Erfolg als jene in Houellebecqs dystopischen Roman.


Quelle: